Mustererkennung


Trotz Pult und Ablesen hören wir Felix Schwenzel (FS) gerne zu. Warum?

Ich frage mich das jedes Mal und jedes Mal mische ich mich ein bisschen ein, mal auf G+, mal auf FB, aber ich habe FS 2012 auf einer Re:publica auch gefragt, ob ich das darf. Diesmal haben wir uns darauf geeinigt, dass ich einen Weblogeintrag für Sie, meine Studierenden, aus ihm machen darf, denn hier gehört mein Dauer-Vortrags-Murmeln eigentlich hin. Danke schön, FS!

Warum also funktioniert Felix Schwenzel als Abschlussredner bei der Re:publica 2015 so gut?

1) Wer hier ist, kennt ihn aus dem Netz oder anderen Re:publicas und weiß, was ihn (vermutlich) erwartet

Das ist schön meta, denn im Vortrag geht es ja genau darum, dass wir uns unsere Realität selber schaffen und uns unsere Erwartungen immer wieder neu selber bestätigen.

FS liest ab (weil er sich so inhaltlich sicherer fühlt, sagt er selbst). Ablesen ist kein Verbrechen, auch wenn Pultvorträge oft die schlechteren sind. Das wiederum hat verschiedene Gründe.

  • Manchmal verändert Pult Persönlichkeit. Kleine Menschen sollten sich nicht von einem Pult den Raum nehmen lassen.
  • Pulttexte sind oft akademische Lesetexte.

2) Die Texte von FS sind Hörtexte. Er schreibt so, dass er es selber gut lesen kann und so, dass wir gut zuhören können. Für einen Pulttext ist der Re:publica-Text ziemlich nah am Gespräch. Und wenn Sie mich kennen, kennen Sie auch mein Credo: Präsentieren bedeutet, mit Menschen zu sprechen.

Was mich immer wieder fasziniert: Seine Vortragstexte sind fast einen Tick sauberer geschrieben als seine Blogtexte. Ich glaube ja, dass FS sein Skript gar nicht bräuchte. Im Seminar erleben wir das ganz oft. Das Skript weglegen, loslassen, und spüren, dass der Text von alleine trägt.

3) Schwenzels Stimme trägt. Ihn, den Text, den Vortrag.

Das bedeutet NICHT, dass Stimme wichtiger ist als Text. Es zeigt aber, dass guter Text, Sprechtext eben, auch hinter einem Pult funktioniert, wenn man ihn gut liest. Schwenzel ist ein guter Pultredner, weil ihm am Thema liegt, weil wir ihm das, was er sagt, abnehmen. Schwenzel bringt seine Street Cred aus dem Netz und dem Real Life mit ans Pult. Menschen mögen Schwenzel. Schwenzel mag Menschen. Das merkt man. Da kommt kein Oberlehrer, da kommt auch kein Weltverbesserer, da kommt einer, der selber was lernen will, der selber etwas besser machen möchte, der etwas verstehen will, der etwas recherchiert hat und jetzt teilt, was ihm wichtig ist, etwas, das anderen wichtig sein könnte oder sollte.

Die Erkenntnis, dass Realität eine Fiktion ist. Hello, Matrix, my old friend.

4) FS kann aber eben auch Text. Punkt.

Und deshalb funktioniert der Vortrag

Er funktioniert in genau diesem Rahmen, vor genau diesem Publikum, das (fast) alle Insider-Anspielungen versteht. Hier sprechen die meisten denselben Code. Die Re:publica war schon immer ein Klassentreffen, egal, wie groß und unübersichtlich und vielleicht auch blass sie inzwischen ist.

Der Einstieg

FS darf, was man vielen nicht verzeihen würde: Witzig sein und auf den ersten Blick ohne Relevanz fürs Thema. (Bild von Günter Öttinger. Wenn Sie nicht wissen, wer das ist, müssen Sie bitte selber recherchieren. Hier im Raum weiß das jeder.)

(Erinnerte mich ein wenig an einen anderen Vortrag von 2008, als ein Re:publica-Sprecher (Viktor Mayer-Schönberger aus Harvard) seine Keynote Nützliches Vergessen der Telekom widmete, die sich gerade die Farbe Magenta hatte sichern lassen. Ab da weiß jeder im Raum, wie man denkt.)

Der folgende Beavis & Butthead-Witz ist redundant. Wir hatten ja schon gelacht. Aber vielleicht geht das nur mir so. Ich war schon zu MTV-Zeiten kein großer B&B-Fan.

Ich mochte Bannerblindheit. (Müssen Sie jetzt nicht verstehen. Verstehen Sie, wenn Sie gucken.)

Dann kommt auch schon die erste präzise formulierte These. Ein Satz, eine Idee, eine Folie.

[real life ist … realitätsflucht]

FS schreibt das klein, weil er immer alles klein schreibt. Da haben Sie Ihre Authentizität. Bei so kurzen Aussagen ist das aber immer noch lesefreundlich genug. Ich persönlich habe mich gefreut, dass die Ellipse richtig sitzt (mit Leerzeichen). Das freut mich immer.

So freut sich eben jeder über etwas anderes.

Das Folientempo in den ersten fünf Minuten (und später) ist ok, und bietet genug Abwechslung Bild/Text/statisch/Video.

Schlichte Folien. Passt. Wir würden hier keine Glamourfolien wollen.

3:55

Nicht räuspern, besser trinken. Vielleicht vor dem Vortrag noch mal Stimmübungen machen. Summen, Brummen, dann schleimt es später nicht so, sagt Tante Anke. Stimmhygiene.

3:00/4:00 Schöne Reihungen

Reihungen sind wunderbare kleine Salven. Ändern den Rhythmus. Hämmern die Botschaft ein.

[Die Mikrobiologie hat uns neue Ängste, Phobien, Neurosen, oder Ekel beschert, Furcht, Furcht vor Keimen, Waschzwänge …]

[Frauenhass, Fremdenhass, Mobbing, Misanthropie oder meintewegen auch Dummheit.]

Hier höre ich beim ersten Anhören Frauenhass, Menschenhass, stolpere darüber und frage mich, ob Frauen keine Menschen sind, merke dann, dass ich mich verhört haben muss und spule zurück. Live kann ich das nicht.

Deshalb: Deutlich sprechen. Endsilben aussprechen, nicht nuscheln. Nicht zu viel: Hamwer. Haben wir. Es hilft, langstreckig gesehen und gibt der Stimme einen Hauch mehr Haltung und Spannung.

4:16

[Dank des Internets sieht auch der letzte Menschenfreund wie ich, wie viele Arschlöcher es gibt.]

Darf man das? Ja. Ab und zu darf man das. Und manchmal muss man das. Wenn man nicht dauerpöbelt, darf man auch mal sprachlich das Jacket ausziehen. Solange man sich damit nicht anbiedert.

Ich habe auch einen Arschloch-Satz, wenn es ums Thema Authentizität geht: Es gibt auch authentische Arschlöcher.

4:25 Schöne Analogie, schöner Parallelismus

Das Internet ist nicht die Ursache für Mobbing, so wie die Mikrobiologie nicht die Ursache für Krankheiten ist.

4:54 Goatse

(Wieder ein bißchen Code, COIK – Clear only if known, nur für Insider, nicht für Schwenzels Mutter, die auch im Publikum ist. Googel das nicht, Mama! Auch Sie sollten jetzt tunlichst keine Bildersuche starten. Hier reicht Text.)

5:00

Thema Perspektivenwechsel erklärt mit einem Bild seiner Frau Katja, die beim Malen Bilder manchmal auf den Kopf stellt. Schöner, persönlicher Aspekt. (Und ein bisschen erlaubte Eigenwerbung.)

6:30 Welle-Teilchen-Dualismus

Folie dazu: ein Donauwellenteilchen.

Nett, lacht der Raum.

Nur: Großformatige Aufnahmen von Lebensmitteln sind so eine Sache. Meine Ästhetik ist eine deutlich andere als die dieses Stück Kuchens. Ich fotografiere (Essen) anders; so, dass es lebendig wird, dass ich mich immer wieder neu verlieben kann.

Das Publikum findet es aber völlig ok.

7:00 Die Farbe Blau

… hier würde ich (aber das bin jetzt ichichich) mir ein wenig tiefere Erkenntnisse wünschen. FS hatte aber vorhin gerade postuliert, dass er Erkenntnisse profanisieren wird, und also darf er das auch. Zum Nachlesen aber auf der Folie das Buch von Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht.

9:30 Zahlensalatfolie (Mustererkennung)

Rein persönliches Lehrer-Ja-Aber: Dieses Beispiel wird oft (falsch) verwendet, um zu zeigen, dass Rechtschreibung keine Rolle spielt, dass wir Wörter trotzdem lesen können, solange der erste und letzte Buchstabe richtig sind. Das aber gilt nur für *vertraute* und einfache Begriffe wie *Huas* oder *enficah*.

Aber darum geht es an dieser Stelle nicht, deshalb ok.

Ungefähr hier wurde ich etwas müde. Warum?

Nicht genug Neues für michmichmich persönlich, Pattern Recognition und Mustererkennung sind mein großes Thema, da war nicht genug Tiefe für michmichmich persönlich, das war mir zu anekdotisch, ich wollte jetzt gerne vorspulen. Das war fürs Publikum vermutlich völlig anders, viele dort sind deutlich jünger als ich, vielen war vieles sicher neu und alle waren ja sowieso da um »ihren Felix« zu sehen und zu hören. Ich habe, weil ich nicht da war, und jeden Vortrag eben auch *beruflich* sehe, eine andere Brille auf, eine andere Wahrnehmung, die oft auch verfälscht, weil ein Live-Vortrag anders ist atmosphärisch als ein Video. Außerdem war es ein Ideen-Anstoß-Vortrag. Der Abschlussvortrag. Passt also.

11:00

war dann aber doch auch ungefähr die Stelle, wo mir der freundliche Sing-Sang langsam zu wenig abwechslungsreich war. Hier würde ich ansetzen wollen und mir einen Hauch mehr Präzision wünschen, etwas mehr Rhythmus.

Und dann kommt die Rhythmus-Änderung aber auch schon und macht mich wieder wach, eine Bilderflut prasselt auf uns ein, und als auch das schon wieder anstrengend wird, nach ein paar Sekunden, sagt Schwenzel auch schon: [Es ist anstrengend, die Wahrnehmung anzupassen.]

Sehr, sehr schöne kongruente Stelle. Gute Choreografie. Bilderprasseln (ich nenne das oft pile ups) ist das visuelle Äquivalent zu sprachlichen schnellen Reihungen. Funktioniert, gut gemacht wie hier, sehr gut.

Und dann kommt eine Zeichnung von metabene, und alles wird wieder ruhig und gut, wie immer, wenn eine Zeichnung von metabene kommt. (Schöne Metastelle: Weil die Quellenangabe nicht zu sehen ist, nennt FS sie. Wer weiß, wie sehr ich an Quellen glaube, und wie sehr ich metabene liebe, weiß, wie sehr mich das gefreut hat.

Das Ende

[Da könnt ihr jetzt wirklich mal drüber nachdenken.]

Wäre mir persönlich zu lehrerhaft, ist aber natürlich wieder ein Bezug zu einem, den alle kennen, der immer sagt: Denkt da mal drüber nach, und genau der/das kam ja vorhin schon vor (24:30). Passt also. Rundes Ende.

So vielleicht.

Man könnte noch vieles, aber der erste Liter Kaffee ist alle, und ich muss noch auf den Wochenmarkt, ins real life.

Mein Fazit:

  1. Beispiele und Aussagen sind fast immer in dichtem Bezug.
  2. Es gibt Zitate, die einen Knoten um das Gesagte/Gezeigte machen. Die Zitate sind oft in Englisch auf den Folien zu sehen, FS spricht sie auf Deutsch. Das ist nett. Die Zitate sind auch kurz genug, um sie zu überfliegen/aufnehmen zu können.
  3. Das Thema ist relevant. Punkt. Wir müssen uns selber misstrauen. Ständig. Dauernd.
  4. Die Text-Folien-Choreografie funktioniert gut, ich würde immer noch ein wenig streichen, aber das ist nicht wichtig
  5. Stimme schlägt Pult
  6. Text schlägt Stimme

Ob man etwas deutlich anders machen kann? Sicher. Kann man immer.

Und fast alle im Publikum werden mir widersprechen, weil live dabei sein, etwas fühlen, gemeinschaftlich, als Herdentier, im Rudel, in der Euphorie einer Abschlussveranstaltung nach drei Tagen Talk und Bier und Menscheln mit Altbloggern und Namen, die man kennt oder eben auch nicht, ist etwas völlig anderes, als ein Video fremdsehen. Wenn man mehr will, als mit Kumpeln schwatzen, ist das aber die Feuerprobe:

Funktioniert es auch außerhalb des Kuschelrahmens der Comfort Zone?

Ich denke, zu großen Teilen ja.

Ich postuliere dennoch mal eine Liste der Möglichkeiten.

  • Bitte noch mehr Aufschauen. Besonders am Anfang. Und immer wieder.

Das spielt live keine große Rolle, weil man es nicht wirklich sieht, aber später auf den Videoaufnahmen eben schon.

Das Aufschauen hilft auch dem Sprecher: Man nimmt noch einmal wahr, zu wem man spricht, und verändert Haltung und Stimme.

  • Etwas mehr Sprechrhythmus, etwas mehr Spannung. Nur ein wenig. Ein ganz klein wenig weniger lakonisch.
  • Weniger *man*. Mehr wir, ihr. Immer, wenn wir unser Publikum ansprechen, sehen wir es an. Oft hilft das auch mit dem Blickkontakt.
  • Einen Tick mehr Präzision an einigen Stellen, aber das ist jetzt nur ein schwammiges Gefühl

Vielleicht hätte ichichich ein paar andere Beispiele gewählt, um zu zeigen, dass wir unsere Realität immer wieder selber konstruieren, dass wir unzuverlässige Erzähler unserer eigenen verfälschten Erzählung sind, dass wir unzuverlässige Zeit-Zeugen sind, dass wir unseren eigenen Erinnerungen nie trauen dürfen, und möglicherweise hätte ich auch Pippi Langstrumpf zitiert, die ich noch immer nicht mag. »Ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt«

Vielleicht hätte ich auch den Begriff Pareidolie genannt, oder William Gibson erwähnt und Pattern Recognition gesagt und nicht Mustererkennung. Aber das wäre dann ich, und es wäre ein anderer Vortrag, und vielleicht hätte ich zu einem leeren Saal gesprochen oder zu einem anderen Publikum.

Wer weiß das schon.

Denn Vortrag ist immer nur, wenn einer aufsteht und spricht.

Sitzkritik ist die bequemste Haltung von allen.

Ich freue mich deshalb ganz offiziell schon hier auf den nächsten FS.